Isabel Bongard aus Mellen schrieb in Chile Geschichte
WP vom 25.06.2016 von Arne Poll
Dieses Foto zeigt Isabel BongardFoto: Simon, Wolfgang
Mellen. Der Staat Chile verpflichtete 1885 eine Balver Lehrerin. Ein Berliner Ehepaar ging jetzt auf Spurensuche und fand Erstaunliches heraus.
Werner Würtele brennt für dieses Thema. Das ist ihm auch am Telefon deutlich anzumerken. Der Berliner hat viel Arbeit in seine Forschung zu Isabel Bongard investiert, schrieb ein Buch und könnte es mit Leichtigkeit auswendig vortragen. Die Mellenerin schrieb Ende des 19. Jahrhunderts in Chile Bildungsgeschichte. Würtele und seine Frau Adriana Alfonso, die selbst aus Chile stammt, haben viel über Bongard herausgefunden. Jetzt fanden sich neue Spuren auf dem Hof Bongard in Mellen. Dort wurde die Lehrerin 1849 geboren.
Der 69-jährige ehemalige deutsche Entwicklungshelfer dreht in seinen Erzählungen die Zeit zurück: „Chile war mit englischer Hilfe gerade siegreich aus dem sogenannten Pazifikkrieg von 1879 bis 1883 hervorgegangen“, erzählt er. Chile habe versucht, Anschluss an die Industrieländer zu finden und Botschafter in die USA und Europa entsandt, um die Bildungssysteme zu erforschen. Die preußische Drill- und Paukschule habe die Lateinamerikaner fasziniert – „aber mehr noch die Ideen der Reformer Pestalozzi, Fröbel, Diesterweg, Herbart.“
Die chilenische Regierung habe 1885 ein Bildungsgesetz erlassen und deutsche Lehrerinnen unter Vertrag genommen. Darunter befand sich auch Elisabeth Bongard, die später Isabel genannt wurde. „Damals und noch lange bis ins 20. Jahrhundert hinein galt für die Volksschullehrerinnen in Deutschland der Zölibat. Für Elisabeths Leben und Karriere war die – natürlich uneheliche – Geburt von Paula 1882 eine Katastrophe. Schweren Herzens übergab sie die Tochter einer befreundeten Familie und folgte dem Ruf der chilenischen Regierung“, sagt Würtele.
Die deutsche Verhexung
Elisabeth Bongard gründete 1890 die Escuela Normal in der Stadt La Serena, etwa 450 Kilometer von der Hauptstadt Santiago entfernt. Sie leitete bis 1928 das Lehrerinnenseminar von La Serena. „Mit Fug und Recht konnte man von einer deutschen Bildungsreform sprechen“, sagt Würtele. „Lehrpläne und Methodik folgten deutschem Vorbild, selbst der Schulhausbau war dem preußischen nachempfunden. Schulmaterialien wurden in Leipzig gedruckt.“ Chilenischen Nationalisten sei das zu weit gegangen. „Manche Autoren sprachen von der deutschen Verhexung.“
Die Würteles wurden eher durch Zufall auf Bongards Geschichte aufmerksam. Adriana besuchte selbst von 1954 bis 1960 das Lehrerinnenseminar. „Sie ist jeden Tag an der Büste von Isabel Bongard vorbeigekommen“, sagt Würtele. Auf der 50-Jahr-Feier der Absolventinnen von 1960 entbrannte dann das Forscherfieber bei dem Ehepaar, das sich 1974 in Argentinien kennenlernte, vollends. Nachdem die Würteles schon 2009 auf dem Hof Bongard in Mellen erste Spuren der berühmten Lehrerin entdeckt hatten, sammelten sie mit Unterstützung der Mellener Nachfahren immer neue Puzzle-Teile. „Wir haben sogar alte Tagebücher gefunden. Zum Glück wird auf einem Bauernhof nichts weggeworfen“, sagt Würtele. „Die Geschichte mit Tochter Paula war uns zum Beispiel neu.“
Mit ihren Erkenntnissen zur deutschen Bildungsreform in Chile hoffen die Würteles selbst ein bisschen Geschichte schreiben zu können. „Davon hatten weder das Goethe-Institut noch die deutsche Botschaft in Santiago etwas gehört.“